Künstlerinterviews

RAY 2015 - IMAGINE REALITY Interview mit Simon Starling

„Für mich war Fotografie der Anfang von allem.“ (Simon Starling)

Im Rahmen der Fototriennale RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain interviewen wir Künstler, die in der Hauptausstellung IMAGINE REALITY zu sehen sind.
Simon Starlings Werk „The Nanjing Particles (After Henry Ward, View of C.T. Sampson’s Shoe Manufactory, with the Chinese Shoemakers in Working Costume, North Adams and Vicinity, circa 1875)“ (2008), ist in der Ausstellung RAY 2015 IMAGINE REALITY in der zentralen Halle des MMK 1 zu sehen ist und steht beispielhaft für transmediale Kunst. Die Arbeit besteht aus einer Fotografie und zwei großen skulpturalen Objekten.


Simon Starling in MMK 1

RAY:

Kannst du uns etwas über die Entwicklung und Entstehung der Stahlobjekte erzählen, die in der Ausstellung „Imagine Reality“ zu sehen sind? Was ist der politische Hintergrund dazu?

Starling:

Im Jahr 2007 hat mich das MASS MoCA (Massachussetts Museum of Contemporary Art) in North Adams eingeladen, eine Ausstellung zu planen. Die Stadt war für lange Zeit ein Zentrum der Industrie. Doch in Folge der andauernden Auswirkungen der „Great Depression“ in den 1920er und 1930er-Jahren mussten viele Firmen schließen und die Stadt kam immer mehr herunter.

In den 1990ern eröffnete das MASS MoCA in einer der riesigen Leerstellen der Stadt. Das Museum befindet sich in einer wirklich sehr schönen ehemaligen Textildruck-Fabrik und ich habe für die Ausstellung mit „The Nanjing Particles“ eine Arbeit speziell für das Museum erstellt.

Die Ausstellung fand zu einem Zeitpunkt statt, als alle in Amerika vom Aufstieg Chinas als globale wirtschaftliche Macht sprachen. Ein Arbeitskollege erzählte mir eine Anekdote über einige chinesische Arbeiter, die nach Nordamerika gekommen waren, um einen Zugtunnel zu bauen. Später fand ich aber heraus, dass sie in einer Schuhfabrik gearbeitet haben, die auf der anderen Straßenseite des Museums lag. Ich habe angefangen weiter nachzuforschen und wie sich rausstellte, waren sie die erste Gruppe von Gastarbeitern an der Ostküste von Amerika. Sie sind 1870 angeheuert worden, um den Streik in der Samson Schuhfabrik zu brechen. Sie waren Streikbrecher und mussten in der Fabrik leben. Ich glaube, dass das Leben für sie ziemlich mies war, aber da sie die erste Gruppe von chinesischen Einwanderern an der Ostküste waren, wurden sie zu Berühmtheiten und auf Grund dessen fotografiert.

Ende des 19. Jahrhunderts waren Stereobilder sehr beliebt, die durch ein Stereoskop betrachtet werden, so dass mittels dieses optischen Geräts die Illusion eines einzelnen 3D Bildes entsteht. Ein solches Stereobild, auf dem eine Gruppe chinesischer Arbeiter in Arbeitskleidung vor der Samson Schuhfabrik zu sehen ist, habe ich gefunden.

Daraus habe ich einige Silberpartikel aus der Druckemulsion extrahiert und unter einem elektronischen Mikroskop betrachtet. Alle sichtbaren Partikel hatten einen dreidimensionalen, skulpturalen Charakter. Wir haben zwei dieser Partikel gekennzeichnet und Bilder davon aus vielen verschiedenen Perspektiven gemacht, so dass wir mittels einer an der Albany University entwickelten Software dreidimensionale Modelle davon erstellen konnten. Diese Modelle wurden dann an eine Kunstgießerei in Nanjing in China geschickt. Dort wurden sie um das millionenfache der Originalgröße vergrößert und in Edelstahl gegossen. Die Produktion der Skulpturen konnte aufgrund von finanziellen Einschränkungen nicht in den USA verwirklicht werden, sondern nur in China.

Daher ist meine Installation ein Werk über die Entwicklung von Systemen der globalen Produktion.

Simon Starling in MMK 1
Simon Starling, The Nanjing Particles (After Henry Ward, View of C.T. Sampson’s Shoe Manufactory, with the Chinese Shoemakers in working costume, North Adams and vicinity, ca. 1875), 2008

RAY:

Es handelt sich somit sowohl um historische als auch zeitgenössische Produktionsbedingungen. Wie sind die Skulpturen und die Fotografie in der Ausstellung angeordnet; inwieweit stehen sie miteinander in Verbindung?

Starling: Die Stahlskulpturen werden zu Zerrspiegeln ihrer Umgebung. Im Ausstellungsraum des MASS MoCA sind die Skulpturen mit der dortigen Industriearchitektur verschmolzen – aufgrund ihrer stark polierten, nahtfreien Verarbeitung wirken sie fast virtuell. Hier, in der postmodernen Architektur des MMK, verhält sich dies natürlich ganz anders. Die Stahlskulpturen sind in der sehr eindrucksvollen Eingangshalle im Herzen des Museumsgebäudes von Hans Hollein positioniert; das kleine Stereobild ist vor ihnen ausgestellt. Dies ergibt eine gewisse dramatische Steigerung: von dem winzigen Bild der Arbeiter in der Fotografie über die stark vergrößerten Bildfragmente hin zur Architektur und so weiter. Die Arbeit legt einen Fokus auf den herstellungsimmanenten Prozess der Transformation, von dem hochtechnischen Labor-Kontext bis hin zur historischen Kunst des Fälschens.

RAY:

Welchen Stellenwert bzw. welche Bedeutung hat das Medium „Fotografie“ in deiner Arbeit?

Starling:

Das Medium Fotografie ist sehr vielfältig. Für mich war Fotografie in gewisser Weise der Anfang von allem. Meine Auseinandersetzung damit begann schon recht früh, nämlich als ich mir eine eigene kleine Dunkelkammer baute. Diese war sehr einfach, sehr kalt im Winter, sehr heiß im Sommer. Ich war von der sichtbaren Alchemie der Fotografie gefesselt, bevor ich die chemischen Prozesse dahinter verstanden habe.

Simon Starling, The Nanjing Particles (After Henry Ward, View of C.T. Sampson’s Shoe Manufactory, with the Chinese Shoemakers in working costume, North Adams and vicinity, ca. 1875), 2008

Später habe ich Fotografie studiert und bin dann zur Kunsthochschule gegangen, um bildende Kunst zu studieren. Fotografie ist und bleibt ein sehr wichtiges Werkzeug und ein vielfältiger Bestandteil meiner Arbeit. Wichtig ist, dass es auf skulpturale Weise ein Material wie jedes andere Material ist. Die Fotografie existiert (oder existierte) als ein Depot von Materie – Silberpartikel gebündelt ergeben ein Abbild, wie es in „The Nanjing Particles“ deutlich wird. Der Wechsel zur digitalen Technologie des Bildermachens hat irgendwie auch Platz für die Wiederaufnahme der traditionellen analogen Fotografie als skulpturales Medium geschaffen.

Sie dient auch als ein Mittel der Prozessdokumentation, mit der ich mich intensiv befasse. Viele der Werke, die ich produziere, haben einen langen und komplexen Herstellungsprozess. Das Medium der Fotografie ist ein Mittel dies zu dokumentieren und die Prozesse für das Publikum zu erhalten. Dies habe ich im Laufe meiner Karriere sowohl für ruhige als auch für bewegte Bilder gemacht.

Fotografie ist wohl der Schlüssel zu allem. Aber ich sehe mich selbst eher als ein Bildhauer, der Fotografie verwendet.

RAY:

Arbeitest du immer noch in einer Dunkelkammer? Welchen Stellenwert hat deiner Meinung nach analoge Fotografie heute?

Starling:

Ja, ich habe immer noch eine Dunkelkammer in meinem Studio. Es ist für mich ein Rückzugsort vom Computer, der zunehmend meinen Arbeitsalltag bestimmt. Wenn man die Türe schließt und die rote Dunkelkammerbeleuchtung anschaltet, ist man wirklich an einem anderen Ort. Ich denke es ist ein sehr wertvoller Raum, auch um einfach darin nachzudenken. Es ist für mich auf gewisse Weise immer noch ein magischer Ort. Ich finde, dass es einen interessanten anwachsenden Flickflack zwischen analogen und digitalen Informationen gibt − zwischen Daten und Materie. „The Nanjing Particles“ ist ein gutes Beispiel für diese hybride Arbeitsweise.

RAY:

In der Ausstellung „Imagine Reality“ ist der Aspekt des Transmedialen sehr wichtig. In welcher Beziehung steht „The Nanjing Particles“ zu dem Ausstellungstitel? Wie präsentiert das Werk eine „imagined reality“?

Starling:

Für mich ist die Frage eng mit dem Prozess des „Entpackens“ von Bildern und Objekten verbunden. Ich interessiere mich einerseits für die Idee, dass eine Fotografie ausnahmslos ein Symptom der Wirkungsmächte ist, die sie auch ins Leben gerufen haben – die Institutionen, die sie umgeben, die Ökonomien, die ihre Entstehung vorantreiben und so weiter. Andererseits aber auch für die Besonderheiten der Fotografie – die Verschmelzung von Chemie und Optik und das phantasmagorische Verhältnis zur Geschichte – die in mancher Hinsicht diese institutionellen Grenzen überwinden kann.

Vielleicht liegt es zwischen diesen zwei Auffassungen von Fotografie, dass meine Arbeiten eine Wirklichkeit präsentieren.

© RAY 2015 Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain, www.ray2015.de, www.mmk-notes.com

Simon Starling, The Nanjing Particles (After Henry Ward, View of C.T. Sampson’s Shoe Manufactory, with the Chinese Shoemakers in working costume, North Adams and vicinity, ca. 1875), 2008

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