Künstlerinterviews

RAY 2015 - IMAGINE REALITY Interview mit David Claerbout

„Wirk­lichkeit ist für mich gesellschaftlich geformter Wahnsinn.“ (David Claer­bout)

Den Auftakt der Künstler-Interviews für RAY 2015 IMAGINE REALITY macht der belgische Künstler David Claerbout (*1969, Kortrijk, Belgien), der mit den Medien Fotografie, Video, Sound, Malerei und digitale Kunst arbeitet. Sein Werk ist an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Film einzuordnen.

Im Interview spricht er mit uns über zwei Arbeiten, die in der Ausstellung IMAGINE REALTIY zu sehen sind – „Travel“ (zu sehen im Museum Angewandte Kunst) und „Radio Piece (Hong Kong)“; letzteres entstand in Koproduktion mit RAY 2015. Der Künstler gibt uns einen Einblick in seine Ideenfindung und die Auswahlkriterien der verwendeten Medien.


Interview-David-Claerbout-im-MMK1

RAY:

Du arbeitest hauptsächlich als Videokünstler. Welche Bedeutung hat das Medium der Fotografie in deiner Arbeit?

DC:

Ur­sprünglich war ich Maler, lange bevor ich mich mit Fo­tografie beschäftigt habe. Kino und Fo­tografie ka­men später und er­steres ist überhaupt nicht meins. Ich finde, dass Kino eine Ide­olo­gie darstellt und ich lehne Ide­olo­gien auf das Schärf­ste ab.

In Büchereien oder Buchläden fra­gen sie im­mer noch in welcher Abteilung meine Bücher ste­hen sollen – bei Filmemach­ern, Künstlern oder Fo­tografen? Ich glaube, dass mein Werk eine Art Fo­tografie gepaart mit einem gewis­sen Sinn für Malerei darstellt.

Ich ver­suche wieder­holt be­wusst zu machen, dass un­sere Beziehung zur Fo­tografie für im­mer ver­schwinden wird. Wir se­hen ein Bild, aber dieses Bild hat einen eige­nen Ur­sprung in der Kam­era. Es geht um das Verhält­nis von Linse und Sub­jekt; dieses Verhält­nis löst sich kon­tinuier­lich auf. Men­schen ver­lassen sich nicht mehr da­rauf, was sie se­hen. Fo­tografie ist und war schon im­mer ma­nip­u­la­tiv.

Im En­d­ef­fekt be­deutet dies, dass wir nicht mehr wahrnehmen, was di­rekt vor uns geschieht, son­dern lediglich Vorstel­lun­gen erken­nen. Wenn wir nicht mehr die Fähigkeit haben die Re­alität wahrzunehmen, sind wir kom­merziell und dann kann selbst der Raum in un­serem Kopf kom­merzial­isiert wer­den. Die Leute wer­den denken, dass sie selbst et­was wahrnehmen, aber eigentlich schauen sie genau auf die Weise wie der große Mech­a­nis­mus es vorgibt. Je­mand oder et­was übern­immt un­sere Wahrnehmung.

RAY:

Kannst Du uns etwas über deine neue Arbeit “Radio Piece” erzählen, die für die Ausstellung IMAGINE REALITY entsteht?

DC:

Der er­ste En­twurf der Ar­beit „Ra­dio Piece“ ent­stand vor fünf Jahren. Viele meiner Ideen überste­hen die An­fangsphase nicht, denn ich bin im­mer sehr selb­stkri­tisch.
„Ra­dio Piece“ the­ma­tisiert „Raum“ und beson­ders die Verfügbarkeit von Wohn­raum. Ich wusste von An­fang an, dass dieses Pro­jekt in Hong Kong stat­tfinden soll, denn Hong Kong kann als der In­be­griff eines überlade­nen Raumes gese­hen wer­den. Dort ist Wohn­raum so teuer, dass viele Leute unter für uns in­hu­ma­nen Be­din­gun­gen leben müssen. Dann habe ich eine Doku­men­ta­tion über den Stadt­teil Kowloon in Hong Kong ent­deckt, in der ein isoliertes Rechtssys­tem herrschte, in dem man in den Un­ter­grund ver­schwinden kon­nte ohne von der Polizei ge­fun­den zu wer­den. Die Stadt wurde in den 1980er Jahren zerstört und durch das „neue“ Kowloon er­setzt. Bis dahin war die Stadt überfüllt mit Häusern. Ein Haus war über das an­dere gebaut, so hoch, bis eine konkrete Ein­sturzge­fahr ent­stand.
Mein In­ter­esse an der The­matik des gerin­gen Raumes basiert auf einer Ar­beit, in der ich mich auf fast iro­nis­che Weise mit dem Raum zwis­chen den Ohren eines men­schlichen Körpers beschäftigte. Ich habe realen Raum bzw. Im­mo­bilien und den Raum zwis­chen zwei Ohren auf metapho­rischer Ebene ver­glichen.

Dieser Raum zwis­chen den Ohren ist frei, uner­forscht und kann neu be­setzt wer­den. Hi­er­aus ent­stand die Idee mit Kopfhörern zu ar­beiten. Denn sobald man Kopfhörer trägt, bekommt man den Ein­druck an einem an­deren Ort zu sein, doch es bleibt der Ort zwis­chen den Ohren. Auf diese Weise ent­stand das au­dio­vi­suelle Werk „Ra­dio Piece“ mit einem au­di­tiven und vi­suellen Teil.

David Claerbout, videostills “Radio Piece (Hong Kong)”, 2015 Courtesy the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich, RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain © VG-Bildkunst,
David Claerbout, videostills “Radio Piece (Hong Kong)”, 2015 Courtesy the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich, RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain © VG-Bildkunst,
Raumnachstellung von David Claerbout
Raumnachstellung von David Claerbout

RAY:

Wie wählst Du das Medium bzw. die Technik für Deine Arbeit? Warum hast Du dich für eine Aufnahme mit einer “uninterrupted backtracking camera“ entschieden?

DC:

Wesentlich für mich war, dass die vi­suelle Kom­po­nente in meinem Werk kohärent wirkt. Und was könnte da passender sein als eine einzelne Kam­eraspur ohne Un­ter­brechung und Mon­tage. Da­raus en­twick­elte sich die Idee Orte zu en­twer­fen, die nicht zusam­mengehören, aber durch eine einzige Kam­er­abe­we­gung ver­bun­den wer­den. Ich bin nicht der er­ste, der dies gemacht hat. Aber das Auss­chlaggebende an meiner Ar­beit ist die Kom­bi­na­tion mit dem Ton; der Ton selbst ist kohärent mit dem Raum den wir se­hen.

Die Ver­wen­dung stere­o­foner Auf­nah­men ist eine Meth­ode, die mit­tels zweier Mikro­phone einen 3D Stereoton en­twick­elt, der dem Zuhörer das Gefühl gibt mit einer an­deren Per­son in einem Zim­mer zu sein. Es ist wie eine Ver­mis­chung von zwei Wel­ten – es ist eine Welt der Il­lu­sion. Fußschritte aus einem fik­tiven Raum er­scheinen wie Fußschritte im realen Raum. Ich habe ange­fan­gen mit der Idee zu spie­len, künstliche und reale Töne miteinan­der in der In­stal­la­tion zu ver­mis­chen.

Die Geschichte des Films han­delt von zwei jun­gen Männern, die ex­per­i­mentelle Musik hören, bei der viele hohe und tiefe Ton­la­gen miteinan­der ver­mis­cht wer­den. Der Wert von realen und vor allem men­talen Räumen steht im Fokus. Der Film ist da­rauf aus­gelegt den Be­tra­chter zu ver­wirren. Zu Be­ginn ist das Bild eines Zen Gartens zu se­hen. Durch das Her­aus­zoomen der Kam­era wird erkennbar, dass der Garten ein Poster an einer Wand darstellt; die zwei jun­gen Männer sitzen da­vor und disku­tieren über Musik. Durch weit­eres Her­aus­zoomen wird eine großfor­matige Außenan­sicht eines Gebäudes in Kowloon sicht­bar. Zum Schluss weis der Be­tra­chter nicht mehr was er eigentlich gese­hen und gehört hat.
Die Film­szene des Gartens wurde in 3D nachge­baut. Es ist eine sehr akku­rate Nach­bil­dung, da alles genauso dargestellt wird, wie im Orig­i­nal – Farbe, Struk­tur, sogar die Hörbe­din­gun­gen.

RAY:

Warum hast du deine Arbeit „Radio Piece“ genannt?

DC:

Es hat mit einzelnen Inspirationen angefangen. Ich hatte eine Vision von indischen, chinesischen oder bangalischen Billiglöhnern, die in einem Geschäft Radio hören, welches mitten im Raum platziert ist. Auf diese Weise verteilt das Radio den Ton in den gesamten Raum. Ich wollte mit dieser Situation arbeiten. Die Idee war vorhanden, aber die Produktion war etwas komplizierter. Es mussten 3D Arbeiten, das Replik eines Raumes und ein Live-Film angefertigt werden.
Meine Arbeit sollte eine Bruchstelle haben. In der Mitte des Films nimmt eine Person im Film die Kopfhörer ab; da der Betrachter einen stereofonen Ton durch seine Kopfhörer hört, wirkt es so, als ob wirklich jemand die Kopfhörer abnimmt. Der Betrachter ist alleine, der Ton ist verschwunden, nur die reine Stille bleibt. Gleichzeitig zoomt die Kamera aus dem Fenster raus in die Stadt und entfernt sich vom gezeigten Raum. Während man da sitzt und wartet, dass etwas geschieht, spürt man für einige Minuten eine unheimlich wirkende Stille.

David Claerbout, videostills “Radio Piece (Hong Kong)”, 2015 Courtesy the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich, RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain © VG-Bildkunst,
David Claerbout, videostills “Radio Piece (Hong Kong)”, 2015 Courtesy the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich, RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain © VG-Bildkunst,
claerbout_travel_still_a_ray2015
David Claerbout, videostill “Travel”, 1996-2013 Courtesy the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich, RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain © VG-Bildkunst, Bonn 2015

RAY:

In der Arbeit „Travel“ wird der Besucher von den Synthesizer-Klängen einer Komposition für stress-lösende therapeutische Musik durch eine idyllische Waldpassage begleitet. Könntest Du uns auch von dieser Arbeit erzählen, die zu RAY im Museum Angewandte Kunst zu sehen ist?

DC:

Die Idee des Werkes „Travel“ geht bis auf das Jahr 1996 zurück, bevor ich mit dem Medium Video gearbeitet habe. Damals studierte ich an der Akademie in Amsterdam und hatte eine etwas schwierige Zeit, da mir verkündet wurde, dass ich dort nicht bleiben konnte. Zu dieser Zeit sammelte ich Kitsch- und Fahrstuhlmusik, Musik, die zur Entspannung dient. Ich war begeistert davon, dass diese Musik Bilder in meinem Kopf hervorriefen. Es erschienen klare Bilder von einem tiefen und dunklen Wald und es breitete sich eine Art Entspannung aus, die einem beim Einschlafen hilft und einen vollkommen sicher fühlen lässt. Es faszinierte mich, dass diese Bilder in meinem Kopf so real wirkten. Jedes Mal, wenn ich diese Töne hörte, habe ich die Musik verstanden, obwohl ich sie nicht allzu sehr mochte. Ich konnte durch diese Bilder klar sehen. Ich wollte die Aspekte der berechenbaren Musik und der berechenbaren Bilder zusammenführen – „Travel“ ist nicht mehr als das. Es ist eine Definition von Raum.

Man kann den Wald, indem der Film gedreht wurde, nicht eindeutig zuordnen, da sich dieser von einem Park in einen europäischen Wald und daraufhin in einen großen monumentalen Wald verwandelt. Der Film endet mit einer sich steigernden Musik und man realisiert, dass nur ein dummer kleiner Wald inmitten eines riesengroßen Feldes gezeigt wurde. Er ist viel kleiner als er zuerst den Anschein machte. Ich glaube ich war einfach immer davon fasziniert wie Enttäuschung und Freude miteinander interagieren.

Wenn man sich Filme ansieht, gibt es normalerweise immer eine Botschaft, eine bestimmte Schlussfolgerung oder ein konkretes Ende, aber in meinem Werk bekommt man ein stärkeres Gefühl. Man denkt, dass man erst den Anfang des Abenteuers gesehen hat. Ich wollte Emotionen übermitteln, die einen daran zweifeln lassen, was man gerade gesehen hat. Es ist also eigentlich ganz simpel.

AusstellungsaAnsicht: David Claerbout, videostill “Travel”
Ausstellungsansicht: David Claerbout, videostill “Travel”

Der Grund, weshalb die Umsetzung der Arbeit so lange gedauert hat (genau 17 Jahre), war eine gewisse Angst davor, dass die Leute es nicht verstehen würden. Ich dachte, sie würden nicht begreifen warum ich diese kitschige Musik verwendet habe.

Einige Zeit später hatte ich etwas Geld, aber keine neue Idee – eigentlich sollte ein Künstler an dieser Stelle nicht weitermachen. Aber ich hatte diese alte Idee noch im Hinterkopf und hab sie meinem Team vorgestellt. Ich wollte dieses Projekt unbedingt als Animation und nicht als Film produzieren, da ich einen illusionären Ort plante, der so nicht existiert. Also bin ich nach Deutschland gereist und habe Wälder fotografiert, die vollkommen naturbelassen waren. Basierend auf diesen Fotografien haben wir eine Animation entwickelt. Jetzt ist es ein Wald, der in den Köpfen aller ist.

RAY:

Wird in der Arbeit „Travel“ eine utopische, idealisierte Welt gezeigt, während sich Radio Piece mit einer eher dystopischen Zukunft beschäftigt?

DC:

Die Landschaft in „Travel“ und der dystopische Raum in „Radio Piece“ lassen es so annehmen. Aber eigentlich geht es dabei um etwas anderes. Der wesentliche Inhalt der Werke besteht aus der Definition von Raum. Haben Sie nicht oft das Gefühl, wenn Sie in Europa reisen, dass die Qualität von Raum sehr wichtig ist? Aber wenn Sie nach Asien oder Hong Kong fahren, sehen Sie, dass die Leute glücklich sind mit einer Definition von Raum, die für uns unvorstellbar wäre. Dies zeigt deutlich, dass es eine sehr durchmischte Vorstellung von Wohnraumqualität gibt. Beide Arbeiten befassen sich genau damit. Sie thematisieren Dinge, die kohärent wirken, aber vielleicht reden wir überhaupt nicht über das Selbe, wenn wir etwas anschauen. Meine Arbeiten sind mentale Räume, sie existieren nicht, doch sie wirken real.

RAY:

„Travel“ basiert auf einer Idee von 1996, doch standen dir erst jetzt die technischen Möglichkeiten zur Verfügung, um diese Arbeit zu realisieren. Welche neuen Möglichkeiten bieten die digitalen Verfahren der Fotografie? Welchen Stellenwert hat für dich heute noch die analoge Fotografie?

DC:

Ich bin ein Verfechter analoger Ideen. Die Welt ist dank des digitalen Fortschrittes ein verblüffend toller und verwirrender Ort. Einerseits ergeben sich daraus viele Möglichkeiten, aber andererseits werden diese auch verringert. Mittendrin gibt es Künstler, die sich weigern digital zu arbeiten. Was sie aber nicht bemerken, ist die Tatsache, dass die analoge Oberfläche auch nur eine andere Oberfläche darstellt.

RAY:

In wie weit ist deine Arbeit „Radio Piece“ und „Travel“ Teil einer „erdachten, imaginierten“ Wirklichkeit? Was bedeutet es für Dich eine Realität zu imaginieren?

DC:

Was ist Wirklichkeit? Ist es dieses „ ich bin morgens aufgewacht“ Ding? Ich glaube Wirklichkeit ist alles im Universum von dem wir wissen und über das wir sprechen können – auch soziale Ordnungen sind Wirklichkeit. Aber Sie können auch dieses Mikrofon vor einen Hund halten und ihm die gleiche Frage stellen. Wirklichkeit ist für mich gesellschaftlich geformter Wahnsinn.

© RAY 2015 Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain, www.ray2015.de, www.mmk-notes.com


Weitere Interviews